Benn, Gottfried: Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke

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Gottfried Benn gilt als einer der wichtigsten deutschen Dichter der Moderne. Seine 1912 erschienenen Morgue-Gedichte brachen radikal mit poetischen Traditionen und spiegelten Benns Eindrücke aus seiner Tätigkeit als Arzt wieder.

Autor:

Gottfried Benn (* 2. Mai 1886 in Mansfeld, Brandenburg; † 7. Juli 1956 in Berlin) war ein deutscher Arzt, Dichter und Essayist.

Titel:

Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke


Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.


Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.


Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.


Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat soviel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.


Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. - Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. - Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.


Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.


Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort,
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Publikationsdaten:

erschienen 1912 in der Gedichtsammlung Morgue

Moderne-Ansatz:

Hiebel

Gedichtanalyse:

Das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ von Gottfried Benn erschien 1912 in der Gedichtsammlung „Morgue“. Das Gedicht ist stilistisch dem Expressionismus zuzuordnen. Der Expressionismus war eine Epoche der Literatur, die von etwa 1905 bis 1925 andauerte und sich, vor dem Hintergrund der aufkommenden Industrialisierung und später des 1. Weltkriegs, zum Ziel nahm, mit bürgerlichen wie literarischen Konventionen zu brechen. Inhaltlich beschreibt Benn in seinem Gedicht einen Gang eines Mannes und einer Frau durch eine ärztliche Station für Krebskranke. Der Tod und der zunehmende körperliche Zerfall der Patienten rücken dabei thematisch in den Mittelpunkt.

Das Gedicht besteht aus sieben Strophen mit je drei oder vier Versen. Auf Reime und ein erkennbares Versmaß wird verzichtet. Die Verse bestehen überwiegend aus einem oder mehreren abgeschlossenen Sätzen oder sind grammatikalisch korrekt voneinander getrennt. Lediglich in den fünften, sechsten und siebten Strophen sind einige Verse scheinbar willkürlich gebrochen.

Der Titel „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ spiegelt auch die Ausgangssituation des Textes wieder. Die im Titel angegebene Frau wird im eigentlichen Gedicht jedoch nicht erwähnt. Das Geschehen wird lediglich aus der Sicht des Mannes, der zur Frau spricht, als Monolog erzählt. Dies wird durch den ersten Vers signalisiert, in welchem der Mann als Redner angegeben ist. Der Mann scheint Arzt zu sein, denn er weiß genau, was in der Baracke vor sich geht. In der ersten Strophe verweist er auf die „stinkenden“ Krankenbetten als „Reihen“ mit „zerfallenen Schößen“ und „zerfallener Brust“. In der zweiten Strophe ermutigt er die Frau, eine der Decken aufzuheben, unter der sich ein „Klumpen Fett und faule Säfte“, also ein Leichnam befindet. Er geht sogar noch weiter und ermutigt sie in der nächsten Strophe, einen Verstorbenen zu berühren („fühl ruhig hin“). Die folgenden drei Strophen gehen näher auf das Leiden der Patienten ein: eine Patientin blutet „wie aus dreißig Leibern“, „die Rücken sind wund“, man lässt sie „Tag und Nacht“ schlafen, es ist von umherschwirrenden Fliegen die Rede. Dennoch wird den Neuankömmlingen dort gesagt, dass „man sich gesund“ schlafe. Dass auf alle jedoch nur der Tod wartet, macht der Mann in der sechsten Strophe deutlich: „Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. […] Erde ruft.“

Benn bedient sich einer nüchternen und direkten Sprache. Die Sätze sind kurz und prägnant und in ihrer Natur eher be- als umschreibend. Diese Herangehensweise steht in ihrer Emotionslosigkeit im extremen Kontrast zu den grausamen und blutigen Eindrücken, die hier verarbeitet werden. Diese fast schon ärztlichen Schilderungen des Geschehens in der „Krebsbaracke“ überlassen dem Leser nichts der Fantasie und entfalten gerade deshalb ihre schockierende Wirkung. Es ist von „faulem Saft“, „Narben“ oder dem „verkrebstem Schoß“ die Rede – der Mensch ist hier kein Lebewesen mehr, sondern nur noch „Fleisch“. Benn veranschaulicht mit diesen Begriffen einerseits die körperliche Verfassung der Kranken und der schon Verstorbenen, andererseits weckt er mit dem Wort „Fleisch“ Assoziationen an geschlachtetes Vieh: ein Patient in der Krebsbaracke ist ebenso dem Tode geweiht wie ein Tier auf dem Weg zur Schlachtbank. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Patienten dort nicht mehr wie Menschen behandelt werden, findet sich in der sechsten Strophe, in der beschrieben wird, wie eine Schwester eine Kranke wäscht, „wie man Bänke wäscht“. Nur der allgegenwärtige Tod wird nicht direkt genannt, sondern in der letzten Strophe mit den Begriffen „Acker“, „Land“ und „Erde“ umschrieben – ein direkter Verweis auf die Beerdigung der Verstorbenen.

Gottfried Benn gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Expressionismus und das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ ist ein hervorragendes Beispiel für diese Epoche. Hans H. Hiebel hält in seinen Betrachtungen über die expressionistische Lyrik in dem Buch „Das Spektrum der modernen Poesie“ einige Charakteristiken fest, die sich bei Benn wieder finden. So stellt er fest, dass moderne Lyrik als monologische Rede auftreten kann. Dies trifft auf die „Krebsbaracke“ zu, die im Grunde genommen ein einziger poetischer, in Versen aufgeteilter Monolog ist. Der Vortrag des lyrischen Ichs ist dabei nicht dialogisch, sondern tritt als Alter Ego auf. Auch das ist bei Benn so – der „Mann“ ist Arzt, genauso wie Benn selbst. Benn teilt uns also mittels des „Mannes“ seine eigenen Erfahrungen mit. Durch das Verwenden des Alter Ego findet eine Abstraktion statt, die für die poetische Qualität des Erzählten sorgt. Auch von der Versrede (segmentierte Setzung von Pausen) macht er Gebrauch.

In Bezug auf die Eigenschaften moderner Lyrik verweist Hiebel in seinem Text auch auf den Romanisten Hugo Friedrich, der Merkmale wie Dissonanz, Dunkelheit oder Desorientierung als wichtige Mittel der Moderne herausstellt. All das findet sich auch in Benns „Krebsbaracke“ wieder. Durch die reimlose Struktur und die düstere Thematik seines Gedichts bricht er mit den damaligen Traditionen und Regeln der Lyrik und fordert den Leser förmlich heraus. Damit erreicht Benn schließlich das Ziel, das der Expressionismus zu erreichen versucht. Friedrich spricht in diesem Zusammenhang von dem Konzept der „entpoesierten Poesie“, was letztlich eine treffende Beschreibung für „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ ist.

zeitliche/Stilzuordnung

Expressionismus

Literatur

http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Benn


Autor des Artikels: Kai Schroer