Benn, Gottfried: Einsamer nie -

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Autor

Gottfried Benn wurde 1886 in Mansfeld/Brandenburg als ältester Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren. Nach dem Abitur studierte er evangelische Theologie, Germanistik, Philologie und schließlich von 1905-1910 Medizin in Berlin. 1912 erhielt Benn seine Approbation als Arzt. Zwischen 1912 und 1913 führte er eine Beziehung mit Else Lasker-Schüler. Beide widmeten einander mehrere Gedichte. Im Jahr 1914 heiratete Benn und wurde im darauffolgenden Jahr Vater einer Tochter. Während des ersten Weltkriegs arbeitete er in einem Militärkrankenhaus. 1933 wurde er Vorsitzender der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste und äußerte sich abfällig über die literarischen Emigranten (z.B. Heinrich Mann). Nach anfänglicher Begeisterung und der Veröffentlichung einiger Pamphlete, wendete er sich 1934 vollständig vom NS-Regime ab und wurde wieder Militärarzt. 1938 wurde ihm Schreibverbot erteilt. Erst 1948 wurde mit der Sammlung “Statische Gedichte” wieder ein Werk Benns veröffentlicht. Sein Bekanntheitsgrad stieg in den darauffolgenden Jahren beträchtlich an und seine Werke wurden immer angesehener. 1956 starb er in Berlin an einer Krebserkrankung.

Titel

Einsamer nie -

Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

Publikationsdaten

Die erste Veröffentlichung von Gottfried Benns Gedicht "Einsamer nie-" erfolgte im Dezember 1936, in der unter politischem Druck veränderten Ausgabe einer in der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienenen Sammlung "Ausgewählter Gedichte". Das Buch fand keinerlei Anklang in der Öffentlichkeit. Öffentliche Beachtung fand das Gedicht erst 1948 als es in der Sammlung der "Statischen Gedichte" ein zweites Mal publiziert wurde.

Moderne-Ansatz

Korte, Herrmann: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. 1999, S. 63-106

Gedichtanalyse

Das Gedicht "Einsamer nie-" von Gottfried Benn beschreibt den Höhepunkt des Sommers und den Höhepunkt der Einsamkeit, den August. Die Idylle der Natur spielt eine zentrale Rolle in dem Gedicht. Obwohl eigentlich die "Erfüllungsstunde" (vgl. Strophe 1, Vers 2), ist der August für das lyrische Ich der "einsamste" Monat (vgl. Strophe 1, Vers 1). Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit je vier Versen. Die ersten beiden Strophen sind parallel zueinander aufgebaut, da im letzten bzw. Vorletzten Vers jeweils das Wort "doch" den Übergang von einer Beschreibung/ Aussage hin zu einer Frage darstellt. Die dritte Strophe besteht ebenfalls aus zwei sich voneinander abhebenden Teilen. Der Doppelpunkt in Vers drei leitet die Antwort auf die Frage aus den vorherigen Versen ein. Auffällig ist, dass das lyrische Ich ausschließlich in den Frageteilen, also im letzten Vers jeder Strophe, in Erscheinung tritt. Die zur Verdeutlichung des lyrischen Ich benutzen Personalpronomen, "dein", "du", kreieren eine zweite Partei, die einen Kontrast zur Gemeinschaft, ausgedrückt durch die Beschreibung der Natur in jeder Strophe, bildet. Mit anderen Worten: Das lyrische Ich befindet sich im Zwiegespräch mit sich selbst als "du", was durch die Frageteile unterstrichen wird. Thema des Zwiegesprächs ist das Gefühl der Einsamkeit und des Ausgeschlossenseins des lyrischen Ich von der Naturidylle und denjenigen, die sie genießen, von den "hellen Seen", "weichen Himmeln", "reinen Äckern" usw. (vgl. Strophe 2 Vers 1-2). Es kann sich nicht über den vergänglichen August freuen, denn es dient "dem Gegenglück, dem Geist" (vgl. Strophe 3 Vers 4). Der Geist kann hier genauso, wenn auch auf andere Weise, glücklich machen wie "Weingeruch" und "Rausch der Dinge" (vgl. Strophe 3 Vers 3). In dem Gedicht stehen sich Natur und Geist, Leben und Kunst unvereinbar gegenüber. Betrachtet man Benns Gedicht im Hinblick auf das Entstehungsjahr 1936, dann könnte man Eindrücke von den olympischen Spielen in München darin entdecken. Benn war anfangs (1933) noch fasziniert von der faschistischen Ideologie, seine Begeisterung ließ allerdings schnell nach, was sich in seinen Werken ausdrückt und so wurde er 1938 mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Das NS-Regime nutzte die Sommerspiele, um sich vor der Weltöffentlichkeit zu inszenieren. Dies missfiel Benn zutiefst. Die Worte "wo sind Sieg und Siegesbeweis aus dem von dir vertretenen Reich?" (vgl. Strophe 2 Vers 3-4) enthalten eine Doppeldeutigkeit. Sie bilden zwar einen Bezug zu den Spielen, gleichzeitig könnte Benn hier seine Enttäuschung über eine Regierung thematisieren, von der er sich Besseres erhofft hatte. "Tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge" (vgl. Strophe 3 Vers 2-3) kann auf die olympischen Ringe und den griechischen Gott Dionysos und somit die Herkunft der Spiele hindeuten. Zudem könnten die Strophen für den Erfolg der Propagandaverbreitung stehen, die die Weltöffentlichkeit gesehen und hingenommen hat. Ob mit oder ohne Bezug zu den olympischen Spielen, ist Benns Gedicht als Entwicklungsprozess zu verstehen. Das lyrische Ich fühlt sich als einsamer Außenseiter, dem schlussendlich sein Tun als Dichter das ersehnte Glück verschafft. Dies deckt sich mit Benns Vorstellung von der Rolle eines Dichters, der für ihn keine Warnfunktion hatte oder moralische Instanz darstellte sondern eine einsame, unbedingte Größe jenseits der Gesellschaft war. Benn bezeichnete sich selbst als inneren Emigranten, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern während der NS-Zeit nicht aus Deutschland floh. Er versuchte sich mit Hilfe seiner Werke von der Realität zu distanzieren (innere Emigration), bis ihm dies 1938 durch das Publikationsverbot untersagt wurde.

Literatur

Bernhardt, Rüdiger (2009): Gottfried Benn Das lyrische Schaffen
Buck, Theo (2006): Zu Benns Gedicht Einsamer nie-. Erschienen in Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg): Text und Kritik
Große, Wilhelm (2002): Gottfried Benn
Korte, Herrmann: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. 1999, S. 63-106
Uhlig, Helmut (1996): Gottfried Benn


Autorin des Artikels: Angela Völker